Die Ruhelose

Es geschah auf Sansibar, in einer Nacht, die nach Zimt und Pfeffer duftete und in der die Sternschnuppen wie Gold vom Himmel zu tropfen schienen. Ruhelos streifte Sofia durch die Straßen. Vorbei an lachenden Menschen, die vor den Cafés auf dem Bürgersteig saßen, vorbei an verlockend duftenden Restaurants und kleinen Bars, aus denen Klaviermusik perlte.

Sofia war die ultimative Reisende, begierig auf alles Neue. Sie stopfte fremde Länder und Städte in sich hinein wie manche Leute Kartoffelchips, und wenn sie genug hatte, reiste sie weiter.

An jenem Abend hörte sie ein Wispern, ein Flüstern im Wind: Der Mitternachtsmarkt ist da. Sophie atmete Abenteuer ein, in ihrem Nacken kribbelte es. Sie folgte einer schwarz gekleideten Gruppe von Nachtschwärmern, immer tiefer in ein Labyrinth enger Gässchen hinein und stand schließlich in einem alten Lagerhaus. An kleinen Marktständen wurde allerhand feilgeboten: filigran gewebte Stoffe aus Spinnenfäden, handgenähte Voodoo-Püppchen, magische Kräuterteemischungen.

„Bitte näherzutreten, Ladys and Gentlemen. Was ich heute für Sie habe, ist nichts anderes als das Glück!“

Ein schlanker Mann in einem eleganten schwarzen Anzug stand auf einem schmalen Podium. Er schwenkte ein zugestöpseltes Fläschchen in der Hand, in dem ein goldenes Licht unruhig flackerte.

„Eine kleine Glücksfee im Glas! Sehen Sie nur, wie sie funkelt, wie sie leuchtet. Sie wird sterben, sie hält das da drin nicht aus. Man darf den Deckel auch nicht öffnen, sonst fliegt sie davon. Aber solange sie lebt, wird ihr Besitzer ein glücklicher Mensch sein!“

Sofia hatte auf ihren Reisen schon einiges gesehen. Blut weinenden Madonnen, sprechende Steine und wahrsagende Tintenfische. Das meiste davon war nur Theater gewesen. Aber das kleine Funkeln zog sie unwiderstehlich an.

Sofia erstand eines, für eine Summe, die ihr Reisebudget arg strapazierte. Erst, als sie wieder draußen stand, wurde ihr bewusst, wie dumm das gewesen war. Wie konnte sie nur auf so einen Taschenspielertrick hereinfallen und sich ein Fläschchen mit einer kleinen Leuchtbirne darin aufschwatzen lassen?

Sofia hob es hoch und beguckte sich den Inhalt genauer. Es war ein zierliches Geschöpf, das unglücklich seine Flügel hängen ließ.

Sofia wurde abwechselnd heiß und kalt. Die Gassen lagen leer und verlassen im Mondschein. Hier und da waren ein paar letzte Nachtschwärmer unterwegs. Bald würde der Tag anbrechen. Und sie hielt es in der Hand: ihr Glück! Alles war nun möglich, alles. Völlig unentdeckte Länder, Völker und Bräuche, neue Gesichter, neue Speisen. Liebe. Geld. Ruhm. Sofia schloss die Augen. Ihr war ein wenig schwindlig. Sie atmete die duftende Nachtluft ein. Die Stimme des Händlers klang leise in ihr nach: Sie wird sterben…

Sofia öffnete ihre Augen wieder. Die kleine Fee sah sie an. Sofia seufzte leise. Dann zupfte sie den Korken aus der Flasche. Ein funkelnder Lichtschimmer erhob sich, umkreiste sie einmal, zweimal, warf ihr eine Kusshand zu … und flog davon. Sofias Blick folgte ihr, bis das Funkeln mit den Sternen am Himmel verschmolz.

Sophias Herz wurde ganz weit und still. Es war, als ob die andauernde Unruhe sie zusammen mit dem kleinen funkelnden Geschöpf endlich verlassen hatte. Und zum ersten Mal in ihrem Leben spürte sie vollkommenen inneren Frieden, vollkommenes Glück.

 

 

 

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Diese kleine Geschichte habe ich für die Schreibwerkschau 2021 geschrieben, deren Motto diesmal Glück lautete.

Die Schreibwerkschau findet jedes Jahr im Frühling statt und bietet einen bunten Querschnitt durch die Arbeiten der Autoren von Claudia Johanna Bauers Writers Coaching Kursen.

Normalerweise findet sie, wie auch die Kurse selbst, in der Berliner Humboldt-Bibliothek statt. Leider war das dieses Jahr coronabedingt nicht möglich, deshalb lasen wir online vor. Etwas gewöhnungsbedürftig, aber es hat trotzdem viel Spaß gemacht, und ich bin jedes Mal wieder angetan von den ganz unterschiedlichen Storys und Ideen, die ein Thema hervorbringen kann.

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